29.7.09

Zwischen Werkstatt und Bordell

Die Ausstellung "Istanbul-Off-Spaces" stellt unabhängige Gruppen und Projekträume der türkischen Kunstszene vor

Irmgard Berner

Berliner Zeitung
21.07.2009

Komm auf den Punkt - wie oft möchte man nicht diesen Satz gen Himmel schreien. Und nun leuchtet er in Großbuchstaben hoch oben zwischen den Türmen des Künstlerhauses Bethanien in den Kreuzberger Nachthimmel, und zwar auf Türkisch: "Sadede Gel". Für die türkische Nachbarschaft sind solche Botschaften geläufige Sprüche, da sie in muslimischen Ländern während des Ramadan als Lichterketten zwischen Minarette gespannt werden.

Die Künstlergruppe atilkunst aus Istanbul sendet hier aber nicht nur eines ihrer markanten "public images" in den offenen Raum, sondern setzt mit dieser traditionellen Form der Botschaftsvermittlung ein gesellschaftspolitisches Signal. Und gibt den spielerischen Auftakt zum Dialog in der Ausstellung "Istanbul-Off-Spaces" im Kunstraum Kreuzberg. Atilkunst ist eine von vierzehn Gruppen und unabhängigen Kunsträumen, denen hier eine äußerst aufschlussreiche Plattform geboten wird.

Die eine Seite des Dialoges dieser Off-Spaces beruht darauf, dass Künstler in Istanbul sich zusammentun und gegenseitig voneinander lernen. Sie bündeln ihre Produktionskräfte und setzen die Kollektiv-Vernunft gegen das bis zur Verzweiflung lähmende Kunst-Establishment ein. Die so entstandenen Projekträume haben sich in den letzten Jahren zu wichtigen Orten des gesellschaftlichen Diskurses herausgebildet. Der Auftritt der Kunst wirkt dabei wie eine Initialzündung. Denn diese Räume, so klein sie auch sein mögen, werden oft zu einem Treffpunkt für Wissenschaftler, künstlerische Initiativen und Organisationen.

In Bethanien zeigen sie nun ihre Gegenentwürfe für eine interdisziplinäre Kunstpräsentation, die mutige Reibungsflächen in einem nach wie vor repressiven Klima einer sich als Einheitsstaat definierenden Türkei bieten. Schon im breiten Flur durchläuft man einen Bilderkosmos zum Thema "Gottesfurcht". Grafiken und Schriftbilder weisen darin auf die seit Menschengedenken zum Machterhalt produzierte Angst hin. Diese Plakatsammlung von 2007 stammt von der Künstlergruppe Hafriyat, die in einem kleinen Ladenlokal im Istanbuler Hafenviertel Karaköy - jenseits des kommerziellen Dunstkreises der konservativen, von Banken und Institutionen getragenen, offiziellen Kunstszene - zwischen Autowerkstätten und Bordellen ihren Raum betreibt. Die laufenden Kosten kann die Gruppe dank der Mitgliedsbeiträge und engagierten Unterstützung aus der Nachbarschaft wie Apotheken, Nachtlokalen und Produktionsfirmen bestreiten und so ihre Unabhängigkeit bewahren.

Wie diese unabhängigen Initiativen der Off-Kunst arbeiten, welche Ziele sie verfolgen - auch im Vergleich zu geförderten Kunsträumen in Berlin - wird anhand von Bildern, Texten, Videos und Installationen nachvollziehbar. Das Apartment Project, von der Videokünstlerin Selda Asal 1999 gegründet, arbeitet auf der Basis von Workshops und Performances. Asal hat in Berlin bereits mit Schülern des Löwenstein-Gymnasiums in Neukölln ein musikalisches Videoprojekt entwickelt. Ihre aktuelle Arbeit in der Ausstellung heißt "Gegenbesuch", eine Aktion, an der sich zehn türkische Künstler beteiligten. In Großprojektionen zeigen sie ihre Reisen nach Georgien, Armenien und Iran, die sie gerade wegen der heiklen Situation dieser Länder unternahmen. Die Filmsequenzen führen den brisanten Hintergrund vor Augen: türkischen Staatsbürgern ist es verboten, in ihr Nachbarland Armenien einzureisen - und umgekehrt. Die Künstler nutzten den Brauch des "Gegenbesuchs", der in diesen wie in arabischen Ländern nachbarschaftliche Beziehungen fördert, als kulturelle Gegenmaßnahme und konnten so Einreiseverbote und Grenzmauern aufheben.

Die andere Seite des Dialogs in dieser Ausstellung ist in der Städtepartnerschaft zwischen Berlin und Istanbul begründet, die bereits ihr 20-jähriges Bestehen feiert. Man kann es nicht hoch genug bewerten, dass der Austausch mit den wenigen vorhandenen Künstlergruppen gepflegt und ein anderes Bild als der übliche Zerrspiegel vom Land am Bosporus vermittelt wird. Im Unterschied zu Berlin bieten die Istanbuler Projekträume aber keine Sprungbretter für angehende Künstlerkarrieren, sondern Aktionsfreiräume und Plattformen für politische Inhalte, gesellschaftlich tabuisierte Themen wie Schwulen und Lesben oder "Frau und Stadt". Und dazu reicht schon mal ein Schaufenster, wie der Raum Artik mekan mit gerade mal zwei Quadratmetern beweist, den die Künstlerinnen Gonca Sezer und Yesim Agaoglu in einem alten Teehaus ebenfalls in Karaköy betreiben. Denn "auf den Punkt kommen" kann man auch in den winzigsten Räumen.

Kunstraum Kreuzberg/Bethanien, Mariannenplatz 2 (Kreuzberg). Bis 16. August, täglich 12-19 Uhr.

28.7.09

Furchtlose Gegenorte

Bethanien zeigt Arbeiten freier Istanbuler Kunstprojekte

Von Jana Findeisen

Neues Deutschland, 16.07.2009

"Kemalism is a way of worship", Hakan Akçura, 2007, Poster, 70x100cm.

In Istanbul ist »Gottesfurcht« schwer umstritten. Die 2007 entstandene Plakatserie des Istanbuler Künstlerkollektivs »Hafriyat«, derzeit in der Ausstellung »Istanbul Off-Spaces« zu sehen, wurde sowohl von islamischer als auch staatlicher Seite zur Provokation erklärt. Noch vor Ausstellungseröffnung warf die türkische Zeitung »Vakit« den Künstlern vor, religiöse Gefühle zu verletzen. Als handfeste Drohungen folgten, wandten sich die Künstler an die Polizei. Die wiederum sah in der Ausstellung die Würde des türkischen Staatsgründers Kemal Atatürk beschädigt. Das Beispiel veranschaulicht, unter welch heiklen Bedingungen türkische Künstler auch heute noch arbeiten.

»Hafriyat« war eines der ersten unabhängigen Künstlerkollektive in einer Stadt, in der Kunst im öffentlichen Raum lange nicht sichtbar war. »Der öffentliche Raum, und folglich auch das gesamtgesellschaftliche Leben und die Individuen, wird von Repression, Kontrolle und Diskriminierung beherrscht«, stellt die Istanbuler Kulturarbeiterin Deniz Erbas fest. Doch die unabhängige Kunstszene Istanbul emanzipiert sich mehr und mehr. Mittlerweile gibt es zahlreiche »Off-Spaces«, von Künstlergruppen eingerichtet mit dem Ziel, eine Kunst jenseits politischer, religiöser und ökonomischer Zwänge zu ermöglichen. Manche dieser Räume sind physisch, andere virtuell, wieder andere mobil. Sie können sich in gemeinsam angemieteten Läden und Wohnungen, in Blogs im Internet, oder in einem mobilen Gegenstand befinden – so hat das Mesa-Projekt einen Tisch zum Ausstellungsraum umfunktioniert.

Diese neue Istanbuler Kunstszene stellt nun im Haus Bethanien aus und sucht dabei bewusst die Auseinandersetzung mit ihrem Gastgeber: Die Gruppe atilkunst assoziiert die Türme des Bethanien mit Minaretten und verbindet sie durch eine »Mahya«, einen traditionell an Moscheen angebrachten Leuchtschriftzug. Statt eine religiöse Botschaft zu verkünden, fordert die Aufschrift »Komm zur Sache«. Selda Asal, eine der wichtigsten Figuren der Istanbuler Off-Szene, zeigt das kurz vor Ausstellungseröffnung fertiggestellte Video-Projekt »Sei ein Traum«, in dem Neuköllner Schüler über die Diskriminierung von Frauen in der islamischen Kultur rappen. Konsum und Überwachung beleuchtet Burak Arikans Installation »MyPocket«: Ein Computer sagt die Kontobewegungen des Künstlers vorher und visualisiert dessen Konsumverhalten graphisch.

Gemein ist diesen und den anderen ausgestellten Arbeiten aus den Istanbuler »Gegenorten« die starke Politisierung. Sie produzieren, in Deniz Erbas Worten, »weniger kunstimmanente oder ästhetische Ansätze als vielmehr aktionsgerichtete Organisationsformen«. Mehr als auf künstlerischer Ebene beeindrucken die Istanbuler Off-Spaces deshalb als innovative Orte des gesellschaftlichen Diskurses.

»Istanbul Off-Spaces« ist bis 16. August im Kunstraum Kreuzberg/Bethanien zu sehen.

9.7.09

Video from my ongoing co-exhibition at Berlin (Istanbul-Off-Spaces)

Videoyu izlemek için tıklayın: Konstantin Schneider, 07.07.09 Kunst-Blog.com, Copyright 2005-08. Alle Rechte vorbehalten.


ISTANBUL-OFF-SPACES

Kemalism is a form of worship

Thirteen art groups are invited to the Istanbul-Off-Spaces exhibition, and their works on show represent the increasing number and growing influence of independent non-commercial artist collectives and art spaces in Istanbul. Some of them, like Nomad, xurban_collective or Apartman Project, can draw upon many years of experience concerning international exhibitions, whereas Daralan or Kurye represent the newcomer scene. The exhibition was prompted by the 20th anniversary of the town twinning between Berlin and Istanbul celebrated this year. It is funded by the Capital Culture Fund and the Art Space Kreuzberg/Bethanien.

With their works, the artists aim to track down social and political phenomena, and by temporarily taking up residence in Kreuzberg try to initiate a lasting dialogue, especially with the local cultural scene of second and third generation so-called "post-migrants“. Selda Asal and Serdar Ateser from Apartman Project, for example, are planning on producing a music video with school classes from the Kurt Löwenstein School in Berlin Neukölln, where more than 90 percent of the pupils are from a non-German background. Also, a poster by Hakan Akçura will be on exhibition that shows a faceless Mustafa Kemal Atatürk, thereby alluding to the fact that in Islam, graphic depictions of the Prophet Mohammed’s face are commonly forbidden. A light installation on the Bethanien building, on the other hand, refers to the Mahya, an illuminated religious message hung between the minarets of a mosque.

Meanwhile these and similar works have become the subject of discussion in several Turkish publications, and outline the increasing opening of contemporary visual art and its protagonists in Istanbul, the city that is fast becoming a global arts player and will be the European Capital of Culture in 2010.

Host Stéphane Bauer from the Art Space Kreuzberg/Bethanien and Berlin-based artist Sencer Vardarman are looking forward to welcoming the following artists: 5533, Apartman Project, 2+1, Artık Mekan, Atılkunst, Daralan, Hafriyat-Karaköy, Kurye, Masa Project, Nomad, Upgrade!Istanbul, Oda Projesi and xurban_collective.

ISTANBUL-OFF-SPACES

Independent Art Spaces in Dialogue
Places for social discourse and discussions about civil society
Exhibitions – Events – Art Education

Place: Art Space Kreuzberg/Bethanien, Mariannenplatz 2, 10997 Berlin
Opening Hours: July 4 till August 16 2009, 12 – 7 p.m.
Admission: free
Opening: Friday, July 3, 7 p.m.,
Welcome Address: Dr. Franz Schulz, District Mayor Friedrichshain-Kreuzberg
Press Briefing & Preview: Friday, July 3, 11 a.m.; two artists per group will be present

Detailed information on the artists, their works on show and the independent Istanbul art scene
Download pictures

7.7.09

der Freitag: Komm zur Sache, Kunst

Ingo Arend
Off-Szene
06.07.2009 17:00


Raum ist in der kleinsten Off-Hütte. Beobachtungen zur Zivilgesellschaft in der Türkei aus Anlass einer Kreuzberger Ausstellung

Gibt es in der Türkei eine Zivilgesellschaft? Seit Jahr und Tag wird dieses Ominosum herbeigesehnt. Erst wenn politische Werte wie Toleranz die gesellschaftliche Alltagspraxis bestimmten, sei der Umbruch zu einer demokratischen, multikulturellen Gesellschaft, den Beobachter seit einem Jahrzehnt in der Türkei registrieren, von Bestand, argumentieren Politiker und Wissenschaftler. Und dann schlägt wieder die Realität zu.

Als sich im vergangenen Jahr auf Istanbuls zentralem Taksim-Platz Tausende zur 1. Mai-Kundgebung versammeln wollten, schockte die Regierung Erdogan die türkische Öffentlichkeit mit einem ungewöhnlich brutalen Polizeieinsatz. Es ist noch nicht lang her, dass ein Amtsrichter im liberalen Stadtteil Beyoglu die Schwulenorganisation Lambda verbot. Und vor wenigen Tagen wollte die AKP-dominierte Stadtverwaltung dort sogar den Alkoholausschank verbieten.

Angesichts der Schwierigkeiten, mit denen Bürgerrechtsbewegungen und Selbsthilfegruppen in dem Land am Bosporus kämpfen müssen; angesichts des Zerrbildes vom stets repressiven, kemalistischen Einheitsstaat, das von der Türkei im westeuropäischen Ausland gezeichnet wird, kann man es nicht hoch genug bewerten, dass der Dialog mit den wenigen vorhandenen Gruppen gepflegt und ein anderes Bild des Landes vermittelt wird. Ein Nährboden der türkischen Zivilgesellschaft ist die Off-Kunst. Wie sie arbeitet, welche Ziele sie verfolgt, kann man jetzt im Kunstraum Kreuzberg nachvollziehen, wo sich rund zehn Istanbuler Gruppen in einer kleinen Ausstellung präsentieren.

Auf zwei Quadratmetern

Für hiesige Verhältnisse wirkt es oft mehr als bescheiden, was sich da entwickelt hat: Der kleine Kunstraum 5533, den Nancy Volkan und Volkan Aslan in dem Verkaufsraum eines Istanbuler Einkaufszentrums im Stadtteil Unkapani zu einem „open Space“ für Lesungen, Künstlergespräche und Workshops hergerichtet haben. Oder der winzige, gerade mal zwei Quadratmeter große Raum mit Schaufenster, den die Gruppe Artik Mekan in einem alten Teehaus in Karaköy, unweit vom Goldenen Horn, zu einem Ausstellungsraum umgewidmet haben Aber in einem Land, in dem der Staat seinen Bürgern immer noch mit Misstrauen begegnet, mit Argusaugen und Maschinenpistolen den öffentlichen Raum kontrolliert, ist schon die Öffnung des kleinsten, selbstorganisierten Raumes ein Wagnis.

Bei diesen Projekten geht es oft zunächst darum, jenseits der etablierten Kunstszene um die großen „Plattformen“ der Istanbuler Banken, Garanti oder Akbank etwa, oder das neu eröffnete (privat gesponsorte) Kunstmuseum Istanbul Modern eigene Ausstellungen zu realisieren. Die aber besonders gern Tabuthemen aufgreifen. Als die Macher der Gruppe Hafriyat – was soviel heisst wie „Baustelle“ – eine Gruppenausstellung zum Thema „Gottesfurcht“ organisierten, trat die Polizei auf den Plan. Die 51 Teilnehmer hatten es gewagt, religiöse und politische Symbole wie Moscheen, Mohammed oder Atatürk ironisch zu verfremden: Einer zeigte Staatsgründer Atatürk ohne Gesicht, ein anderer die Fotomontage eines Minaretts mit Überwachungskameras.

Der Auftritt der Kunst wirkt wie eine Initialzündung. Denn diese Räume, so klein sie auch sein mögen, werden in der Folge oft zu einem Treffpunkt für Wissenschaftler und andere Initiativen und Organisationen. In den Räumen von Hafriyat in Karaköy, einem kleinen Ladenlokal zwischen Autowerkstätten, Bordellen und Hafenarbeiterkneipen, trafen sich Architekten, Stadtplaner, Soziologen und Künstler um die spanische Künstlerin Anna Sala, die in ihrem Projekt „IstanbulMap“ die Gentrifizierung und neoliberale Neuaufteilung Istanbuls dokumentierten. Danach marschierten sie los und verteilten 15.000 dieser Karten kostenlos in der Stadt.

Projekt "Gegenbesuch"

Vom urbanismuskritischen Nachbarschaftstreffpunkt der Gruppe Oda Projesi bis zur grenzüberschreitenden Volksdiplomatie reicht die Bandbreite der Istanbuler Off-Kunst. Die Gruppe Apartment Project etwa organisiert unter dem Titel „Gegenbesuch“ Reisen von Künstlern in angrenzende Länder wie Armenien oder Aserbeidschan. Dass diese Gruppen es nicht nur spielerisch meinen, kann man an der Installation ablesen, die die Gruppe atilKunst mit nach Berlin gebracht hat, die gern mit public images spielt. Sie hat den Satz "Sadede Gel" in Form von Glühbirnen zwischen die beide Türme des legendären Bethanien gehängt, wo der Kunstraum residiert. Der in der Türkei häufig benutzte Satz heißt soviel wie: "Komm zur Sache!" Jetzt sieht die einstige Besetzerhochburg wie ein Minarett aus.

Der nächtens leuchtende Spruch bringt das explizit politische Interesse auf den Punkt, dass die türkische Off-Szene der deutschen oder westeuropäischen voraus hat. Obwohl – oder weil? – sie nahezu keine öffentliche Förderung bekommen. Anders als der einladende Kunstraum Kreuzberg, der eine Einrichtung des Bezirksamtes ist, auch wenn er wie ein Off-Spot auftritt.

Wirklich vergleichbare deutsche Kunsträume wie das Kreuzberger Westgermany – Büro für postpostmoderne Kommunikation, das seit ein paar Jahren an Berlins Kottbusser Tor zu einem Geheimtipp der Off-Szene avancierte, definieren das Politische ihrer Arbeit ganz anders als die Kollegen vom Bosporus. „Unser Ziel ist es“, sagen die Berliner Künstler Ingo Gerken und Stephan Kallage, die zwei Betreiber der wunderbar ramponierten Arztpraxis an dem sozialen Brennpunkt der Stadt, „das möglich zu machen, was sonst nicht passieren würde“.

Vom Avantgardefilmabend über Elektrokonzerte bis zur Off-Performance reicht ihr ungewöhnliches Programm, das man eher als Bohème denn als Widerstand definieren würde. Das direkt Politische muss man auch im avancierten Programm des unabhängigen Projektraums Uqbar im Berliner Wedding lange suchen. „Nichtkommerziell“ zu sein ist für dessen Betreiber um die junge Kuratorin Antje Weitzel an sich schon für politisch. Und sie besteht darauf, das alles „keineswegs nur wegen dem Fun“ zu verfolgen.

Gegen die Regierung

Trotzdem leiden viele Künstler in der Türkei unter dieser (zwangsweisen) Politisierung der Kunst. Und der Perspektivverengung, die das mit sich bringt. „Die Off-Künstler in der Türkei reiben sich immer nur aggressiv an der eigenen Regierung“ beklagt der Istanbuler Medienkünstler Burak Arikan im Gespräch. „Sie sind viel weniger an tiefergehenden Fragestellungen interessiert“. An den Künstlern in Deutschland gefällt ihm deren „Gefühl dafür, was global passiert“.

Freilich kann auch Arikan nicht ganz von der Politik abstrahieren. In seinen Internet-Diagrammen visualisiert er Verbindungen zwischen dem Führungspersonal der kemalistischen Geheimorganisation Ergenekon, deren Mitglieder die Regierung Erdogan kürzlich verhaften ließ, als ihre Staatsstreich-Pläne entdeckt wurden. Und in einem seiner Werke zeigt Burkan einfach die Website, die der türkische Internet-User zu sehen bekommt, wenn er die – vom Staat gesperrte – Seite von Youtube zu sehen bekommt.

Die Keime der Zivilgesellschaft sprießen also in der Türkei. Man muss sie sich nur ansehen. Aber können sie das Land wirklich verändern? Auf diese Frage hebt Nancy Volkan von der Gruppe 5533 beschwörend die Hände zum Himmel. Die freundliche Frau mit den lockigen grauen Haaren und der dunklen Hornbrille, 1946 im amerikanischen US-Staat Virginia geboren, sieht einen Moment lang so aus, als ob sie „Um Gottes willen, nein“ antworten würde. Was man ihr nicht verdenken könnte. Istanbul hat geschätzte 15 Millionen Einwohner. Denen stehen circa 15 off-spaces wie der ihre gegenüber. Daran kann man die Schwierigkeiten dessen ermessen, was Kulturwissenschaftler gern audience building nennen. Doch dann lässt Volkan ihre Arme fallen und sagt mit bestimmtem Lächeln: „Auch die kleinste Gruppe ist wichtig.“